Veröffentlichung

Von Dipl.-Ing. M. Unterkofler, Forplan GmbH, Bonn, März 1997

1. Bemessungsgrundsätze

Die Bemessung einer bedarfsgerechten Rettungsmittelvorhaltung dient dazu, die er-
forderlichen Rettungsmittel, mit Personal besetzt, zur Bedienung der zu erwartenden
Notfallereignisse und Krankentransportanforderungen bereitzustellen. Hierbei werden
unterschiedliche Dringlichkeitsstufen für die Bedienung von Notfällen einerseits und für
die Bedienung von Krankentransporten andererseits zugrunde gelegt.

Während die Bedienung von Notfällen ohne zeitliche Verzögerung zu geschehen hat,
da es um die Abwendung von Lebensgefahr oder schweren gesundheitlichen Schäden
geht, kann im Krankentransport eine gewisse „Wartezeit“ in Kauf genommen
werden. Die zeitliche Dringlichkeit der Bedienung von Notfällen findet ihren Ausdruck
darin, daß die meisten Bundesländer in ihren Rettungsdienstgesetzen, Durchfüh-
rungsverordnungen o. ä. die Einhaltung einer maximalen Eintreffzeit (Hilfsfrist) vor-
geschrieben haben.

Aus diesem Grund ist Voraussetzung für die Dimensionierung der bedarfsgerechten
Rettungsmittelvorhaltung die Aufteilung des Rettungsdienstbereiches in einzelne
Versorgungsbereiche, denen jeweils eine bedarfsgerechte Rettungswache zugeordnet
ist. Von den bedarfsgerechten Rettungswachen ist die Einhaltung der Hilfsfrist
innerhalb der jeweiligen Versorgungsbereiche und somit innerhalb des gesamten
Rettungsdienstbereiches möglich.

Darauf aufbauend soll durch die Bemessung der bedarfsgerechten Rettungsmittel-
vorhaltung sichergestellt werden, dass zum Zeitpunkt des Eintritts eines Notfallereig-
nisses stets ein RTW in der Rettungswache oder im Versorgungsbereich bereitsteht,
um den Notfall innerhalb der Hilfsfrist zu bedienen.

D.h., Grundlage der Bemessung der Notfallvorhaltung ist nicht die durchschnittlich
täglich und stündlich zu erwartende Notfallhäufigkeit, sondern das seltener vorkom-
mende gleichzeitige Auftreten mehrer Notfälle innerhalb eines Versorgungsbereiches.
Bemessungsrelevante Größe ist daher das im Jahresablauf ab einem bestimmten
Notfallaufkommen unvermeidliche gleichzeitig zu erwartende Auftreten mehrerer
Notfallereignisse, der sogenannte Duplizitätsfall.

Unter der begründeten Annahme, dass das Eintreffen aufeinander folgender Notfälle
voneinander unabhängig und zufällig ist, lässt sich der Bedarf an vorzuhaltenden
Rettungsmitteln (RTW) für ein gewünschtes Sicherheitsniveau anhand statistischer
Gesetzmäßigkeiten mittels der Verteilungsfunktion von POISSON ableiten. Wir be-
zeichnen dies als risikoabhängige Fahrzeugbemessung.

Der Risikofall, d. h. der Überschreitungsfall, ist wie folgt definiert:

Es ereignen sich gleichzeitig mehr Notfälle, als Notfall-Rettungsmittel (RTW) im Ver-
sorgungsbereich dienstplanmäßig vorgehalten werden.“

Die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalls bezeichnet den zeitlichen Abstand
zwischen zwei Risikosituationen, nämlich zwischen einer aktuellen Bedarfsüber-
schreitung der vorgehaltenen RTW-Notfallkapazität und dem statistisch erwarteten
wiederholten Eintreten dieses Überschreitungsfalls.

2. Bemessung der Rettungsmittelvorhaltung für die Notfallrettung

Für die Ermittlung der Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles werden folgende
Bemessungsparameter (Einflussgrößen) je Versorgungsbereich benötigt:

- Häufigkeit der zu bemessenden Einzelschichten pro Jahr

- Schichtdauer der zu bemessenden Einzelschichten

- mittlere Notfalleinsatzzeit

- Jahreshäufigkeit von Notfallereignissen innerhalb der zu bemessenden Schichten

Die Häufigkeit der zu bemessenden Einzelschichten pro Jahr hängt davon ab, ob eine
Betrachtung über das ganze Jahr erfolgt (365 Schichten) oder ob nach den Tageskate-
gorien „Montag-Freitag“ (je nach Bundesland ca. 250 Schichten), „Samstag“ (52
Schichten) und „Sonntag/Wochenfeiertag“ (je nach Bundesland ca. 63 Schichten)
unterschieden wird.

Als Schichtdauer ist bei einer Rund-um-die-Uhr-Betrachtung 24 Stunden in Ansatz zu
bringen, bei einer Unterscheidung nach „Tagesschicht“ und „Nachtschicht“ z.B.
zweimal 12 Stunden oder 10 und 14 Stunden. Aus der Häufigkeit und der Schicht-
dauer der zu bemessenden Einzelschichten ergibt sich der Gesamtbetrachtungszeit-
raum, für den die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalls ermittelt wird.

Als mittlere Notfalleinsatzzeit wird die für die Rettungswachenversorgungsbereiche
ermittelte mittlere Einsatzzeit bei Notfällen in Ansatz gebracht, da der RTW während
dieser Zeitdauer mit der Durchführung eines Notfalleinsatzes belegt ist und nicht für
die Bedienung eines weiteren Notfallereignisses zur Verfügung steht. Genau in die-
sem Zeitintervall kann folglich der Duplizitätsfall eintreten.

Die Jahreshäufigkeit von Notfallereignissen innerhalb einer Schicht wirkt sich maß-
geblich auf die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles aus. Je mehr Notfälle zu
erwarten sind, um so niedriger liegt die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles. Es
besteht jedoch kein linearer Zusammenhang zwischen der Anzahl der Notfälle und der
Anzahl der Duplizitätsfälle.

Entscheidend für die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles ist die Anzahl perso-
nell besetzt vorgehaltener Rettungsmittel (RTW). Aus den oben beschriebenen Be-
messungsparametern sowie der Anzahl personell besetzt vorgehaltener Rettungsmit-
tel ergibt sich die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles. Wird die Wiederkehrzeit
des Überschreitungsfalles als zu kurz „empfunden“, so kann die Anzahl personell
besetzt vorzuhaltender Rettungsmittel erhöht werden. In der Folge ergibt sich eine
(wesentlich) höhere Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles.

3. Kritische Bewertung des Bemessungsmaßes unter Berücksichtigung der
Synergieeffekte von Notfallrettung und Krankentransport

Wie vorstehend ausgeführt, wird die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles als
primäres Maß zur Bemessung der bedarfsgerechten Anzahl an Notfall-RTW zugrunde
gelegt.

Die alleinige Heranziehung der ermittelten Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles
zur Festlegung der bedarfsgerechten Notfallvorhaltung lässt jedoch andere Aspekte
außer acht, die ebenfalls den Eintritt des Duplizitätsfalles beeinflussen (vgl. Bild 1).




Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass es kein objektives Kriterium für die Fest-
legung eines bestimmten Schwellenwertes für die Wiederkehrzeit des Überschrei-
tungsfalles gibt. Aus diesem Grund empfehlen wir, neben der rechnerisch ermittelten
Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles auch folgende Aspekte bei der Bemessung
der bedarfsgerechten Notfallvorhaltung zu berücksichtigen:

- die Rettungsmittelkapazitäten aus der Krankentransportvorhaltung

- die zeitlich-räumliche Struktur im Rettungsdienstbereich

- Überschneidungen der Versorgungsmöglichkeiten benachbarter Rettungswachen

- die Anwendung bestimmter Einsatzstrategien

- die Möglichkeit, z. B. auf Rettungshubschrauber (RTH) zurückzugreifen

Es ergeben sich zwei unterschiedliche Situationen, falls einerseits so wenig Kranken-
transporte anfallen, daß keine eigene Krankentransportvorhaltung als bedarfsgerecht
bemessen wird (z. B. nachts und am Wochenende), und falls andererseits eine zu-
sätzliche Krankentransportvorhaltung aus der frequenzabhängigen Bemessung her-
vorgeht (vgl. Bild 2).



Im ersten Fall sind durch den RTW aus der Notfallvorhaltung auch einzelne Kranken-
transporte zu bedienen. Während der Durchführung eines Krankentransportes – ge-
nauer gesagt nur während des Patiententransportes – ist der RTW gebunden und
kann erst nach Übergabe des Patienten zum Notfallort abrücken. In diesem Fall wäre
ein höherer Wert für die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles anzusetzen.

Umgekehrt gemäß Fall 2 können durch den Einsatz von Rettungsmitteln aus der
Krankentransportvorhaltung „rechnerische“ Duplizitätsfälle trotzdem innerhalb der
Hilfsfrist bedient werden. Dies wirkt sich insbesondere bei Anwendung des Mehr-
zweck-Fahrzeugsystems positiv aus. Je nach Auslastung der Rettungsmittel aus der
Krankentransportvorhaltung kann ein geringerer Wert für die Wiederkehrzeit des

Überschreitungsfalles ohne Einschränkung der tatsächlichen Bediensicherheit akzep-
tiert werden.

Beispiel: Sind die RTW aus der Krankentransportvorhaltung nur zu 30 % ausgelastet,
so können theoretisch 70 % der Duplizitätsfälle „entschärft“ werden. Die Wiederkehr-
zeit des Überschreitungsfalles verlängert sich entsprechend.

Bei der Berücksichtigung der zeitlich-räumlichen Struktur im Rettungsdienstbereich
geht es z. B. um die Frage, ob häufig ein Transportziel außerhalb des Rettungswa-
chenversorgungsbereiches angefahren wird. Denn in den Fällen, in denen der RTW
seinen Versorgungsbereich verlässt, bleibt auch nach Freimeldung ein Teil des Ver-
sorgungsbereiches nicht innerhalb der Hilfsfrist erreichbar (Ausnahme: Abdeckung des
nicht erreichbaren Teils durch den RTW einer anderen Rettungswache).

Dadurch, dass die Standorte von Rettungswachen in der Realität so verteilt sind, dass
sich Überschneidungen der Versorgungsmöglichkeiten ergeben (gemessen an den
Hilfsfrist-Isochronen), ist der „rechnerische“ Duplizitätsfall nicht immer mit dem
realen „kritischen“ Duplizitätsfall identisch. Denn je nach Ausmaß der Überschnei-
dung von Versorgungsmöglichkeiten kann eine Zahl von Notfällen durch den RTW einer
benachbarten Rettungswache innerhalb des Hilfsfrist bedient werden. Für die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles bedeutet dies, dass für den mehrfach
überdeckten Bereich von z. B. 2 anstatt nur 1 personell besetzten RTW auszugehen
ist.

Da der Duplizitätsfall i.d.R. nicht absolut gleichzeitig eintritt (das wäre dann der Fall,
wenn mehrere Notfallmeldungen zu verschiedenen Notfällen gleichzeitig in der Ret-
tungsleitstelle eingehen würden), kann bei „Leerlaufen“ der Rettungswache eines
Versorgungsbereiches durch Anwendung entsprechender Strategien (z. B. Wachen-

absicherungs-Strategie) das Risiko reduziert werden, dass ein nachfolgend eintrete-
nes Notfallereignis nicht sofort bedient werden kann. Die Wachenabsicherungs-
Strategie sorgt beispielsweise dafür, dass zu bestimmten kritischen Zeiten, die zwar
nicht vorhersehbar sind, auf die aber direkt reagiert werden kann, ein „zusätzliches“
Rettungsmittel bereitgestellt werden kann.

Kommt es zum Eintritt des Überschreitungsfalles, d. h., es sind mehr RTW zur Be-
dienung der eingetretenen Notfallereignisse erforderlich als dienstplanmäßig im Ver-
sorgungsbereich zur Verfügung stehen, so kann durch die Alarmierung des NEF –
auch unterhalb der Indikationsschwelle für den Einsatz des Notarztes – oder durch die
Alarmierung eines zeitlich nahe befindlichen RTH die Hilfsfrist eingehalten werden. In
diesen Fällen erhöht sich die tatsächliche Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles
entsprechend.

Abschließend stellen wir fest, dass die sich aus den Bemessungsparametern sowie
der Anzahl personell besetzt vorgehaltener Notfall-Rettungsmittel ergebende Wie-
derkehrzeit des Überschreitungsfalles kein Qualitätsmaß für den Rettungsdienst dar-
stellt. D. h., die Versorgung durch eine Rettungswache ist nicht besser als die Ver-
sorgung durch eine andere Rettungswache, wenn sich für sie – z.B. aufgrund einer
niedrigeren mittleren Einsatzzeit – ein höherer Wert als Wiederkehrzeit des Über-
schreitungsfalles ergibt.

Die Unzulänglichkeit eines starren Schwellenwertes für die Wiederkehrzeit des Über-
schreitungsfalles soll hierzu abschließend an einem Beispiel dargestellt werden: Ein
Schwellenwert von 10 Schichten würde beispielsweise in einem Versorgungsbereich
mit durchschnittlich 2,5 Notfällen pro Tag einen zweiten RTW erfordern (Wiederkehr-
zeit bei 1 RTW 8 Schichten, Wiederkehrzeit bei 2 RTW 239 Schichten; mittlere
Einsatzzeit = 60 Minuten). Handelt es sich um durchschnittlich 2 Notfälle pro Tag, so
ügt“ 1 RTW (Wiederkehrzeit von 13 Schichten). Die Qualität der Versorgung ist
u. E. bei jeweils 1 RTW vergleichbar. Der starre Schwellenwert würde jedoch zu einer
ungleichmäßigen Versorgung führen.

Darüber hinaus ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass in jedem Versorgungsbe-
reich mindestens 1 RTW zur Notfallversorgung personell besetzt vorzuhalten ist, un-
abhängig davon, wie hoch die Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles für 1 Not-
fallereignis liegt.

Wie empfehlen daher, bei der Festlegung der Anzahl von RTW für die Notfallrettung
keinen starren Schwellenwert der Wiederkehrzeit des Überschreitungsfalles vorzuge-
ben.

Auch sollte klar sein, dass die unterschiedliche Bezugsgröße 2-Schicht- oder 3-
Schicht-System im selben Versorgungsbereich mit denselben Einsatzzahlen unter-
schiedliche Wiederkehrzeiten des Überschreitungsfalles erzeugt (bezogen auf ein 2-
Schicht-System werden bei gleichem Stellenwert mehr RTW erzeugt als in einem 3-
Schicht-System).

Da man eine gleichmäßige Verteilung der Notfalleinsätze zumindest tagsüber vor-
aussetzen kann, empfehlen wir, von einem 2-Schicht-System (Tag/Nacht) auszuge-
hen. Dies entspricht auch der praktischen Arbeitszeitregelung entsprechend den ein-
schlägigen Tarifsystemen.

Die Einflussgrößen bei der risikoabhängigen Fahrzeugbemessung

Quelle:
mit freundlicher Genehmigung

Dipl. Ing. M. UNTERKOFLER

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